Chronik
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Herbstkonzerte 2006

Felix Mendelssohn-Bartholdy: Symphonie Nr.2 "Lobgesang" Op.52





Werkeinführung

Ein Deutsches Te Deum

Im Juni des Jahres 1840 feierte das Leipziger Bürgertum das 400. Jubiläum der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg. Die Festgemeinde enthüllte eine Gutenberg-Statue und zusätzlich wurde aus diesem besonderen Anlass heraus sogar die Ausstellung eines gesamten Druckereibetriebes eröffnet. Jeder sollte die Bedeutung der Erfindung für die eigene Entwicklung begreifen. Zum Festkonzert lud man in die Thomaskirche, wo als feierlicher Höhepunkt nach Carl Maria von Weberns "Jubelouvertüre" und Georg Friedrich Händels "Dettinger Te Deum" Felix Mendelssohn-Bartholdys neue Sinfonie "Lobgesang" uraufgeführt wurde. Ein Werk, das sich in seiner Konzeption hörbar an Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie und speziell in den vokalen Teilen an der Musik Johann Sebastian Bachs orientiert. Letzterer lag Mendelssohn besonders am Herzen. Als bahnbrechend darf seine Wiederaufführung der Matthäus-Passion mit der Berliner Singakademie 1829 bezeichnet werden.

Robert Schumann brachte es, verständlicherweise aus heutiger Sicht etwas verklärt auf den Punkt: "Er ist der Mozart des 19. Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt." Dem gegenüber steht auch eine sehr kritische Rezeption seiner Werke, insbesonders des "Lobgesanges". So schreibt der bedeutende Literaturwissenschafter Hans Mayer (1907-2001): "Nicht der Vorgang selbst der Emanzipation hat der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdys so oft geschadet, sondern die scheinbare Leichtigkeit des überganges: zusammen mit dem Missverständnis, als könne man heterogene Traditionen durch Addition und Summierung gleichsam zur Synthese zwingen: Judentum und Johann Sebastian Bach, Luther und Beethoven, Moses, Mendelssohn und deutsches Bürgertum." Mendelssohn war im Vergleich zu Berlioz kein Revolutionär mit formalen wie ästheti-schen Utopien. Er verbindet, gleicht aus - besonders im "Lobgesang". Auf eine dreisätzige instrumentale Annäherung an die Kantate, bewusst als barocke "Sinfonia" betitelt und zusammengefasst, folgt eine Art "Deutsches Te Deum". In neun Stationen durchlaufen Chor und Solisten mittels Arien, Rezitativen und Chören "die Nacht der Finsternis", ehe am dramatischen Höhepunkt des Werkes, der Sopran ausrufend und unbegleitet verkündet: "Die Nacht ist vergangen". Das "finstere Mittelalter" ist mit der Möglichkeit des Buchdruckes und der damit verbundenen Demokratisierung der Information überwunden, Leipzig feiert sich als Verlags- und aufgeklärt selbstbewusste Bürgerstadt.

Die Uraufführung selbst kommentierte Robert Schumann mit den Worten: "Die Form des Ganzen konnte für diesen Zweck nicht glücklicher gefunden werden. So hat denn die große Erfindung des Lichts, deren Feier wir begingen, auch ein Werk des Lichts hervorgerufen, für das wir alle seinem Schöpfer unsern neuen Dank aussprechen müssen."

In einem Brief an Karl Klingemann, Jugendfreund und späterer Diplomat, schreibt Mendelssohn: "Du verstehst schon, dass erst die Instrumente in ihrer Art loben, und dann der Chor und die einzelnen Stimmen." Wie ein Leitmotiv erklingt in den Posaunen antiphonartig bereits in den ersten beiden Instrumentalsätzen jene noch ohne Text intonierte Anfangszeile des Chores am Beginn der Kantate "Alles, was Odem hat, lobe den Herrn". Der zusätzliche Text sollte die Aussage noch einmal deutlich unterstreichen. Das Scherzo steht wie in Beethovens 9. Sinfonie bereits an zweiter Stelle, eine Musik die sehr an die Leichtigkeit des "Sommernachtstraumes" erinnert. Ein Frage- und Antwortspiel zwischen Bläsern und Streichern. Die Textpassagen für die sich - nach einem überleitenden "Adagio religioso", das auch ein für Mendelssohn typisches „Lied ohne Worte“ sein könnte - anschließenden neun Vokalsätze wählte Mendelssohn aus Bibelworten und dem Choral "Nun danket alle Gott". Gedichtet von Martin Rinkart und komponiert von Johann Crüger in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Seine Auswahl der Zitate ist dramaturgisch auf eine zentrale Aussage hin ausgerichtet. Er sah in der Erfindung des Buchdruckes die Grundlage einer bürgerlichen Kultur, einen Sieg des menschlichen Geistes über die Gefahren einer sozial begrenzten Bildungsmöglichkeit. Für die Darstellung des Aufstiegs von der Finsternis zum Licht durchläuft Mendelssohn eine Vielzahl musikalischer Ausdrucksformen, was wiederum Schumann zu den Worten veranlasste, es sei wie ein "Blick in einen Himmel Raffaelscher Madonnenaugen". Freilich nur für jenen, der tatsächlich nach oben blickt.

Mendelssohn schafft mit dem "Lobgesang" eine echte Festmusik, am schmalen Grat zwischen verkündendem und künstlerischem Anspruch. Authentisch verbindet er dabei Konventionen des Konzertsaales und des Kirchenraumes, verknüpft die sinfonische Form mit jener des Oratoriums. Daraus entsteht ein „Deutsches Te Deum“. Der Partitur ließ Mendelssohn auf eigenen Wunsch ein Zitat Martin Luthers voransetzen: „Sondern ich wollte alle Künste, sonderlich die Musica, gern sehen im Dienst des, der sie geben und geschaffen hat."

Zu welch grausamen und menschenverachtenden Ideologien Hans Sachs Worte "Ehrt eure deutschen Meister, dann bannt ihr gute Geister" in Richard Wagners "Meistersingern" führen können, lässt sich in "Musik und Rasse" von Richard Eichenauer aus dem Jahr 1937 ungeschminkt nachlesen: "Felix Mendelssohn-Bartholdy zeigt körperlich die Züge beider Hauptrassen des Judentums, der vorderasiatischen und orientalischen; dazu ist gerade bei ihm der starke Umwelteinfluss höchstgesteigerten deutschen Geisteslebens nicht zu vergessen. Aus ihm sprechen lauter vorderasiatische Rassenzüge: Gabe der Einfühlung in fremdes Seelenleben, der gefälligen Ausnutzung bestehender Formen, ein gewisser Mangel an jenem Schwergewicht, das für nordisches Empfinden zu einem ‚großen’ Menschen gehört."

Ein Schauer fährt einem über den Rücken, der in seinen Ansätzen vermutlich in der Leipziger Thomaskirche anno 1840 bereits in der Luft lag. Das Wissen darum, macht Mendelssohns Musik zum Ausdruck tiefer Menschlichkeit.

© Ursula Magnes