Chronik
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Neujahrskonzerte 2008






Werkeinführung
Die musikalischten Schädel als Anti-Depressiva

Wie darf man sie sich vorstellen, diese "musikalischten Schädel", die Richard Wagner je untergekommen sind – der Vater und die Söhne der Strauss-Familie? Richtig! Man muss gar nicht. Auch wenn jährlich ein Amadeus an die besten Popgruppen des Landes vergeben wird und dann und wann ein musikalisches Talent via Voting gesucht wird. Es reicht vollkommen aus, ihrer Musik zu lauschen, wenn möglich dazu zu tanzen. Anno 1832 bleibt die Erinnerung des 18-jährigen Richard Wagners an Johann Strauss Vater dennoch zeitgenössisch aufregend: „Unvergesslich blieb mir hierbei die für jede von ihm vorgegeigte Pièce sich gleich willig erzeugende, an Raserei grenzende Begeisterung des wunderlichen Johann Strauss. Diese Dämon des Wiener musikalischen Volksgeistes erzitterte beim Beginn eines neuen Walzers wie ein Pythia auf dem Dreifuß, und ein wahres Wonnegewieher des wirklich mehr von seiner Musik als von den genossenen Getränken berauschten Auditoriums trieb die Begeisterung des zauberischen Vorgeigers auf eine für mich beängstigende Höhe.“

Gut 60 Jahre später muss Eduard Hanslick konstatieren, dass die Popularität des Walzerkönigs Johann Strauss Sohn „geradezu unermesslich ist: In allen Weltteilen erklingen Strauss’sche Melodien, und in unserem Weltteile fast aus jedem Hause.“ Heute verbindet man die Musik der „Sträusse“ in erster Linie mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, eines, wenn nicht das berühmteste Konzert der Welt, mit einem Markenwert, um dem sich Produzenten und teilhabende Unternehmen international bemühen. Interessant lautet die Kritik über den Mitschnitt des Konzertes im Jahr 1989, dirigiert von Carlos Kleiber: „Dieses Neujahrskonzert ist eines der wirksamsten Anti-Depressiva, die der Plattenkatalog zu bieten hat.“ Strauss-Interpretationen behandeln also auch Gefühlsschwankungen und beschleunigen den Endorphinhaushalt, und das, obwohl Johann Strauss Sohn von 1886 bis zu seinem Tode ein echter Ausländer war. Aufgrund seiner Heirat mit seiner dritten Frau Adele, geb. Deutsch, konvertierte er zum Protestantismus und wurde Bürger des Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha. Schluss mit lustig.

Die Operette Das Spitzentuch der Königin hatte am 1. Oktober 1880 unter der Leitung Johann Strauss’ höchstpersönlich Premiere am Theater an der Wien. Um dem Stoff nach Miguel de Cervantes näher zu kommen, verwendete er mit Bolero, Habañera und Paso doble zahlreiche spanische Folklorismen.

Die Polka Mazur Brennende Liebe von Josef Strauss entstand 1862 in der „russischen Filiale“ der Firma Strauss, in Pawlowsk. Wie sehr dieses Werk autobiografisch zu nennen ist, lässt sich nicht wirklich sagen, jedenfalls ist der feinfühlige Symphoniker Josef Strauss, laut Johann „der Begabteste von allen“, zu erkennen. Aus einfachen Gedanken am Anfang des Stückes entwickelt er die Musik nach allen Regeln der Kunst und spielt lustvoll sich in einer Grauzone an Schattierungen zwischen Walzer und Polka.

Für Missfallen bei Johann Strauss sorgte Carl Michael Ziehrer, indem dieser am 11. November 1889 nach einer eigenen Instrumentierung des Klavierauszuges den Wienern im Etablissement Ronacher zum ersten Mal den Kaiserwalzer präsentierte. Das Opus 437 komponierte Strauss für die Eröffnung des Berliner Konzertsaals Königsbau unter dem Titel „Hand in Hand“, der die politische Verbundenheit des deutschen und österreichischen Kaisers zum Ausdruck bringen sollte. Der Berliner Verleger Fritz Simrock befand die Bezeichnung „Kaiserwalzer“ als wesentlich zugkräftiger. „In originaler Instrumentierung“ wurde der Walzer schließlich durch Eduard Strauss am 24. November im Wiener Musikverein mit großem Erfolg uraufgeführt. Es kam trotzdem zum Krieg.

Auch bei der Polka Tritsch-Tratsch ist der Weg zu einem außermusikalischen Bezug nicht weit. Die Posse „Der Tritschtratsch“ von Johann Nestroy aus dem Jahr 1833 war noch um 1858 ein gern gesehenes Stück im Repertoire der Wiener Bühnen. Darauf lässt sich auch die Publikation der „Humoristisch-satyrischen Wochenschrift Tritsch-Tratsch“ zurückführen: „Wie geht’s, wie steht’s, schon lange nicht gesehen ...“

Die Form der Quadrille brachte Johann Strauss von Paris, wo Jacques Offenbach regierte, mit nach Wien. Als „künstlerische Blasphemie“ wurde von allzu engstirnigen Geistern nichtsdestotrotz die Künstler-Quadrille aus dem Jahr 1858 abgetan. Dabei macht es auch heute großen Spaß Zitate von Mozart, Beethoven, Schubert, Weber, Meyerbeer, Paganini oder Mendelssohn zu entdecken. Bildungs-Unterhaltung auf der Tanzfläche oder im, für den Popcorn kauenden Nachbarn geschlossenen, Ohrenkino.

Der große Walzer Rosen aus dem Süden besteht aus Motiven der Operette „Das Spitzentuch der Königin“. Die „Rose“ im Titel geht dabei auf die Arie des Cervantes im 2. Akt „Wo die wilde Rose erblüht“ zurück. Der „Süden“ kommt insofern zum Tragen, da es sich um eine Widmung des Walzers an Humbert I., König von Italien, handelt. Der Walzer entstand entweder unmittelbar nach der Premiere der Operette „Das Spitzentuch der Königin“ oder bereits vor der Premiere. Marketing!

Gemeinsam komponierten Johann und Josef Strauss den Vaterländischen Marsch - ohne Opuszahl versehen. Musikalischer Sturmschritt ohne Gewehrsalven. Marschiert wird ja meist für oder gegen jemanden ... mit oder ohne Musik.

Die Polka schnell Die Bajadere besteht aus Themen der Operette „Indigo und die vierzig Räuber“, uraufgeführt 1871 im Theater an der Wien - nach langem Zögern Johann Strauss’ erste Operette. Den Melodienreichtum verwertete er in nicht weniger als neun Folgekompositionen, um den musikalischen Mehrwert auch im Konzert- und Ballsaal zu nützen. Die „Bajaderen“ waren indische Tänzerinnen und ein beliebtes Motiv in der Malerei des 19. Jahrhunderts. Auch Johann Wolfgang von Goethe beflügelte und zügelte seine erotische Fantasie im Gedicht „Der Gott und die Bajadere“. Strauss hat er dabei nicht gehört.

Der Accelerationen Walzer entstand für die Studenten der Ingenieurswissenschaften. Ein tempogeladenes Stück, in dem das Metrum, die gemessene Zeit, immer schneller wird. Ein Vorbote der „Pacific 231“ von Arthur Honegger, der darin die Beschleunigung einer Lokomotive beschreibt. Die Sträusse waren den Frauen und der Technik alles andere als abgeneigt. Raffiniert ...

Zupfend spielt es sich durch die und mit der Pizzicato Polka aus dem Jahr 1896. Und auch hier lassen sich durchaus etwas zeitversetzt die berühmt gewordenen Worte des Humoristen Franz Wiest zitieren, der am 19. Oktober 1844 in der Tageszeitung „Der Wanderer“ nach dem erfolgreichen Debüt des blutjungen „Schani Strauss“ notierte: „Gute Nacht Lanner! Guten Abend Strauss Vater! Guten Morgen Strauss Sohn!“

Die Polka schnell Vergnügungszug macht mittels höchster unterhaltender Zielorientiertheit noch einmal gehörig Dampf ehe die obligatorischen und medial weltweit bekannten Zugaben noch etwas Zeit zum Verschnaufen gewähren. Anlässlich seines 50-jährigen Künstlerjubiläums 1894, an dem ganz Wien teilnahm, bedankte sich Johann Strauss sehr bescheiden: „Die Auszeichnungen, die mir heute zutheil geworden sind, verdanke ich wohl zunächst meinen Vorgängern, vor Allem meinem Vater. Sie haben mir angedeutet, auf welche Weise ein Fortschritt möglich ist; er war nur möglich durch die Erweiterung der Form, und das ist mein Verdienst. Ich bitte Sie, mein schwaches Verdienst nur als das zu nehmen.“

Der gedankliche Weg von Schubert über Lanner und Strauss zu Alban Berg hat seinen Reiz.

© Ursula Magnes