Herbstkonzerte 2009
Händel-Stationen: Halle - Rom - Hannover
- London - Waidhofen
“A highway for our God”
Am Ende des ersten Tenor-Rezitativs aus Georg Friedrich Händels wohl berühmtesten Oratorium
“Messiah”, zu Deutsch „Messias“, heißt es: „Prepare ye the way of the Lord, make straight in the desert a highway for our God” („Bereitet die Wege des Herrn und bahnt in der Wildnis die Pfade unserm Gott“). „A highway for our God“? Händels Lebens- und Berufsweg spielte sich im großen Bogen gesehen zwischen Halle und London ab, und das durchaus in der Geschwindigkeit und Intensität einer vielbefahrenen „Highway“. Die Komposition des „Messias“ (1741) markiert eine deutliche Bruchstelle, da Händel nach der Rückkehr aus Dublin 1742 keine italienischen Opern mehr schreibt und sich ganz auf das englischsprachige Oratorium konzentriert. Weniger
aus Glaubensgründen als viel mehr um des künstlerisch sozialen Überlebens willen.
Dem jungen Händel wird das Organistendasein im heimatlichen Halle an der Saale schon sehr bald zu eng. Er geht nach Hamburg, um dort an der von Reinhard Keiser geleiteten Gänsemarktoper das Einmaleins des professionellen Musiktheaters zu erlernen. Der gestrenge Komponistenkollege und deutsche Musikgelehrte Johann Mattheson - er unternahm mit Händel eine gemeinsame Reise zum norddeutschen Meister des „Stylus phantasticus“ Dietrich Buxtehude - bemerkte 1740 zu Händels damaligen Fähigkeiten: „Händel war starck auf der Orgel, stärcker als Kuhnau, in Fugen und Contrapuncten, absonderlich ex tempore; aber er wusste sehr wenig von der Melodie, ehe er in hamburgische Opern kam.“
Dieser Umstand sollte sich durch einen Reise und Studienaufenthalt rasch und sehr dynamisch ändern. Nachdem Händel als Geiger und Cembalist auch in Hamburg nichts mehr zu lernen spürte, begannen die vier spannend aufregenden Jahre in Italien. Die Kunstzentren Florenz, Rom, Neapel und Venedig eröffneten ihm neue Welten und wichtige Kontakte. So zählten die römischen Kardinäle Pietro Ottoboni und Benedetto Pamphilij
zu seinen Mäzenen. Er lernte Arcangelo Corelli und dessen topmodernes „Concerto grosso“ kennen, schlicht, die italienische Musikwelt war begeistert vom „caro sassone“, dem „teuren Sachsen“. Zwei Jahre nach Händels Tod berichtet John Mainwaring, erster Händel-Biograph, 1761 rückblickend über den großen Erfolg der Oper Agrippina“ 1709 in Venedig, dass er „niemals vorher alle Kräfte der Harmonie und Melodie, in ihrer Anordnung so nahe und gewaltig miteinander verbunden gehört“ habe.
Nach einem kurzen Arbeits-Intermezzo in Hannover als dortiger Hofkapellmeister, lässt sich Händel 1712 endgültig in London nieder. Pikantes Detail am Rande: 1714 folgt ihm der Kurfürst von Hannover als englischer König Georg I., für welchen er später die berühmten drei „Wassermusiken“ für die Bootsfahrten- und feste auf der Themse komponierte. Händel ist nunmehr ein gemachter und geschätzter Mann, das italienische Opernunternehmen floriert, er reüssiert als Künstler im Dienste der Königlichen Hoheiten äußerst erfolgreich. Zum Frieden von Utrecht erklingt 1713 in der St. Paul’s Cathedral das Utrechter Te Deum“ und das „Jubilate“ mit rund 150(!) Instrumentalisten - ein wahrer Albtraum für die auf Kleinbesetzung bedachte Historische Aufführungspraxis.
Szenen- und Stoffwechsel: Von der Oper zum Oratorium
Christian Friedrich Daniel Schubart, Musikästhet
seiner Zeit, umschreibt das „Genie Händel“ 1790:
„Händel war ein vortrefflicher Kontrapunktist, doch
opferte er niemals das Genie der Kunst auf, wie
man bei einigen seiner Landsleute mit Recht
verwirft (...) Seine Faust war so weitgriffig wie
Bach seine; daher sind einige Sätze in seinen
Orgelstücken so schwer herauszubringen. Auch
die Theorie anderer Instrumente verstand Händel
vollkommen. Kurz, er ist eines der ausgebildetsten
Genies, die jemals gelebt haben.“
Dessen ungeachtet endet die erfolgreiche Opernzeit
der Royal Academy of Music und ihres
Musikdirektors Händel durch den zunehmenden
Erfolg der englischsprachigen Oper („The Beggar’s
Opera“ von John Christopher Pepusch und
John Gay) 1728 im völligen finanziellen Ruin.
Oscar Bie, Berliner Musikschriftsteller, bemerkte
dazu aus etwas zeitlicher Distanz: „Die Musik ist
außer einer von Pepusch komponierten Ouvertüre,
nichts eigen Erfundenes, sondern alles sind
Volkslieder, Balladen, Tänze, wie sie reicher als je
im englischen Mund leben. Welcher Rhythmus,
welcher kräftige Schnitt in den Figuren, welcher
herbe Reiz in den alten knochigen Kanten und
plärrend weiten Intervallen.“
Händel zieht noch weit vor dieser Charakterisierung
seine Lehren daraus und wendet sich nach
gut 40 italienischen Opern ab 1742 endgültig dem
englischen Oratorium zu, kreiert eine Mischung
aus italienischem Belcanto und englischer Chortradition
in der Nachfolge Henry Purcells. Inhaltlich
dem Puritanismus verpflichtet, nach außen hin
die Weltmacht Englands – Vergleich mit den
Israeliten als auserwähltes Volk – widerspiegelnd.
Der Weltmann Händel begeistert erneut sein
Londoner Großstadt-Publikum und seine Oratorien
werden Vorbild für jene der Klassik und
Romantik. Joseph Haydn („Die Schöpfung“, „Die
Jahreszeiten“) oder Felix Mendelssohn-Bartholdys
(„Paulus“, „Elias“) knüpfen unmittelbar daran an,
auch „Ein deutsches Requiem“ von Johannes
Brahms ist ohne Händel eigentlich schwer vorstellbar.
Für die Komposition des „Messias“ benötigt
Händel die Zeit eines durchschnittlichen Sommerurlaubes.
In nicht mehr als drei Wochen zwischen
22. August und 14. September 1741 ist die Sache
fürs Erste erledigt. Die einfache Besetzung mit
Streichern, später schrieb Händel Bläserstimmen
für Oboen und Fagotte dazu, lässt durchaus auf
ein ohne viel instrumentalen Aufwand aufzuführendes
„Reise-Oratorium“ schließen. Er war ein
absoluter Praktiker, ein Pragmatiker, der seine
Werke den Aufführungsgegebenheiten ohne zu
zögern anpasste. Der „Messias“ ist somit eine Art
„work-in-progress“, das sich durch unterschiedliche
akustische Voraussetzungen oder geänderte
Sängerbesetzungen zu Händels Lebzeiten
kontinuierlich veränderte. Neu vertonte er die Arie
Nr. 6 „But who may abide the day of his coming“
(„Doch wer wird ertragen“) und die Arie Nr. 36
„Thou art gone up on high“ („Du fuhrest in die
Höh’“) für den Alt-Kastraten Gaetano Guadagni.
Messiah – A sacred entertainment
Verglichen mit seinen um nichts weniger bedeutsamen,
aber vielleicht in ihrer Zeit nicht ganz so
berühmten deutschen Zeitgenossen Johann
Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann,
scheint Händel der progressivste in der Verwirklichung
eigener Zielvorstellungen und wurde damit
unter anderem auch zum Wegbereiter des
modernen Konzertwesens in England. Mit seinem,
seit seiner Entstehung ungebrochen populären
Oratorium „Messias“, schuf er ein christlich
geprägtes Zeugnis abendländischer Kunst,
ursprünglich gedacht als abendfüllendes „sacred
entertainment“, übersetzt als eine Art „geistlicher
Unterhaltung“ für das irische Publikum in Dublin,
wohin Händel im Herbst 1741 56-jährig für eine
Oratorien-Saison reist, um der Londoner Gleichgültigkeit
etwas zu entfliehen. Dort firmierte das
Werk ursprünglich nicht als „Messias“, sondern als
„Ein neues geistliches Oratorium“ und hatte
anfangs nur mäßigen Erfolg. Erst als man das
Werk ab 1750 im Rahmen einer Benefiz-
Veranstaltung für das Findling-Hospital gab,
begann sein weltweiter Siegeszug. Es war zu
Händels Zeiten in England eher ungewöhnlich das
Leben und Wirken von Jesus Christus und nicht
ein alttestamentarisches Thema in den Mittelpunkt
eines Oratoriums zu stellen. Aufschlussreich liest
sich der Briefwechsel zwischen dem Textautor
Charles Jennens und dem Gelehrten Edward
Holdsworth. Zuerst zeigt sich Jennens enttäuscht
über die Abreise Händels aus London: „Als ich in
der Stadt eintraf, hörte ich mit Vergnügen, dass
Händel das Oratorium ‚Messias’ vertont habe, war
aber eher gekränkt, als ich vernahm, dass er
damit nach Irland gereist sei, anstatt es hier
aufzuführen.“
Die Eckdaten der Entstehung des „Messias“ sind
schnell zusammengefasst: Den Anstoß, über
Jesus Christus ein Werk zu komponieren, stammt
von Charles Jennens, der hierfür Texte des Alten
(Psalmen, Propheten-Erzählung) und Neuen
Testamentes zu einem Oratorium zusammenstellte.
Mit dem musikalischen Ergebnis war der
gebildete Adelige eher nur mäßig zufrieden. In
einem Brief vom 30. August 1745 schreibt er an
Edward Holdsworth: „Ich werde ihnen eine
Textzusammenstellung zeigen, die ich sehr hoch
einschätze und die ich Händel gegeben habe, mit
dem Titel ‚Der Messias’. Er hat daraus eine
vornehme Unterhaltung gemacht, die allerdings
nicht annähernd so gut ist, wie er es hätte machen
können und sollen.“
Bereits zwei Jahre zuvor mahnt Jennens Händel
doch endlich Verbesserungen vorzunehmen: „Was den ‚Messias’ angeht, steht es immer noch
bei ihm, im Hinblick auf eine öffentliche Aufführung
die schwachen Stellen umzuarbeiten, und zu
diesem Thema habe ich ihm einiges gesagt.“
Das
erinnert ein bisschen an den Briefwechsel zwischen
Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal.
Heute kennt man den Namen Charles
Jennens, von ihm stammt auch der Text zu den
Oratorien „Israel in Egypt“, „Belshazzar“ und
„Saul“ aufgrund der Musik von Händel und nicht
umgekehrt.
13. April 1742 – Dublin im „Messias-Fieber“
Uraufgeführt wurde der „Messias“ in der Karwoche
am 13. April 1742 erstaunlicherweise im
irischen Dublin und nicht wie allgemein erwartet in
London. Drei Wochen später wurde die Aufführung
am 3. Juni mit großem Erfolg wiederholt.
Händel berichtet darüber ausführlich und ist
ebenso stolz auf das große Lob des Bischofs von
Elphin:„Mr. Handel, der mit seinen Oratorien alle
anderen Komponisten übertrifft, die mir bekannt
sind, hat sich in diesem berühmten Werk, betitelt
‚Der Messias’, selbst übertroffen. Das Ganz ist
jenseits alles dessen, was ich mir je vorstellen
konnte, ehe ich es las und hörte. Es scheint eine
Art Musik zu sein, die gänzlich anders ist als jede
andere. Und besonders bemerkenswert daran ist
dies: Die Komposition ist sehr meisterhaft und
kunstreich, die Harmonie aber ist so großartig und
doch fasslich, dass sie allen gefällt, die Ohren
haben zu hören, gebildeten und Ungebildeten.“
Stefan Zweig gibt in seiner historischen Miniatur
„Georg Friedrich Händels Auferstehung“ eine
Vorstellung davon, wie Händel nach dem finanziellen
Operndebakel mit seinen englischen
Oratorien wieder eindrucksvoll Fuß fasste: „Am
13. April, abends, staute sich die Menge vor den
Türen. Die Damen waren ohne Reifröcke gekommen,
die Kavaliere ohne Degen, damit mehr
Zuhörer Raum finden konnten in dem Saale;
siebenhundert Menschen, eine nie erreichte Zahl,
drängten heran, so rasch hatte der Ruhm des
Werkes sich im voraus verbreitet; aber kein Atem
war zu hören, als die Musik begann, und immer
lautloser wurde das Lauschen. Dann aber brachen
die Chöre herab, orkanische Gewalt, und die
Herzen begannen zu schauern.“ Tatsächlich
wurde das Publikum gebeten, doch möglichst
ohne Reifröcke und Degen zu erscheinen, damit
möglichst viele Menschen in der New Musick-Hall
in der Dubliner Fishamble Street Platz finden.
Der „Messias“ folgt wie alle Oratorien Händels einem dreiteiligen Aufbau. Der erste Teil umfasst die Ankündigung und den Plan der Erlösung durch den Messias. Der zweite Teil erzählt von der Passion und der Zurückweisung, sowie von der Unterdrückung der Aufbegehrenden. Der dritte Teil ist ein einziger großer Hymnus des Dankes für die Überwindung des Todes. Was in der Ouvertüre in getrübten und zurückhaltenden e- Moll beginnt, endet beispielsweise bei John Eliot Gardiner nach 2 Stunden 17 Minuten – in feierlichem D-Dur. Händel deutet Christus, den Messias, ganz im Sinne des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Christus erscheint als positiver Held und machtvoller König, sein Leiden wird nur kurz dargestellt und führt unmittelbar in einen Ausdruck des Triumphes. Händel selbst soll nach einer Aufführung gesagt haben:„Ich würde bedauern, wenn ich meine Zuhörer nur unterhalten hätte, ich wünschte, sie besser zu machen.“
Rezeption und Interpretation – „Messias der Tausend“
Was bewegt Stefan Zweig in Zusammenhang mit Georg Friedrich Händels Oratorium „Messias“ von einer „Sternstunde der Menschheit“ zu sprechen? Es macht ebenso staunen, dass ausgerechnet ein deutscher Komponist aus Halle an der Saale, ausgestattet mit bestem italienischen Theaterhandwerk, das englische Oratorium schlechthin komponiert. Ein Werk, das schon zu Händels Lebzeiten eines seiner beliebtesten war – und bis heute ungebrochene Popularität genießt. Was Mozart keinesfalls daran hinderte, auf Anraten des Wiener Baron von Swieten, eine eigene „zeitgemäßere“ Fassung herzustellen, mit allerhand instrumentalen und modischen Zusätzen - geschmacklich auf die Wiener Klassik abgestimmt.
Auch Johann Gottfried Herder, mit Wieland, Goethe und Schiller zum klassischen Weimarer Viergestirn zählend, schätzte den „Messias“, besonders auch die textliche Zusammenstellung der Ausschnitte aus dem Alten und Neuen Testament durch den als sehr streng geltenden Charles Jennens: „Im Messias also, in Worten der Propheten und Apostel that sich Händel’s Geist am Mächtigsten hervor. Von der ersten Stimme: Tröstet, tröstet mein Zion! Spricht Euer Gott, bis zur letzten: Er regieret ewig und ewig, Der Herr der Herren, Der Götter Gott. Hallelujah!’ herrscht beinahe bildlos der starke und sanfte Geist aller Empfindungen, die das weite Feld der Religion einhaucht. Kaum berührt wird die Erzählung, allenthalben vom tiefsten Gefühl hervorgedrungen und beherzigt.“
Im Laufe der Zeit wurden besonders im anglikanischen Raum aus Messias-Aufführungen wahre national gefärbte Massen-Spektakel, unter dem Motto: Umso mehr Mitwirkende auf der Bühne desto besser. Mit einer solchen Intention hat die Historische Aufführungspraxis überhaupt nichts am Hut. Adäquate Interpretationen folgen einem genauen Quellenstudium unter Heranziehung eines Instrumentariums, das zu Händels Zeiten erklungen ist.
Der „Messias“ ist damals wie heute für ein breites Publikum geschrieben – ähnlich wie Bachs Matthäus-Passion“ oder Beethovens „Missa Solemnis“ besucht man sehr oft das Werk, und weniger den Interpreten. Das Wesen aller Meisterwerke. (Was sich meist auch an den Plakaten widerspiegelt, wenn ausnahmsweise Komponist und Werk am größten abgedruckt sind.) Auch die aktiv kreative Rezeption ist ungebrochen: 1992 arrangierten und produzierten Mervyn Warren und Quincy Jones in Anlehnung an das Original Handel’s Messiah – A Soulful Celebration“, was die Worte Nikolaus Harnoncourts von einer Musik, die „unerhört, so eruptiv und aufwühlend“ ist, mehr als unterstreicht und hörbar macht.
© Ursula Magnes