Sommerkonzerte 2009 - Werkeinführung
Im Pendelschlag der Zeit
Die Symphonie Nr. 101 in D-Dur komponierte Joseph Haydn im Rahmen seiner zweiten Reise nach England.
Das Werk entstand in zwei Arbeitsgängen, denn Haydn komponierte die Sätze zwei bis vier noch in Wien und
vervollständigte die Symphonie mit dem ersten Satz in England. Die Uraufführung
fand schließlich am 3. März 1794 statt. War Joseph Haydn in London zugegen, so
bedeutete das für das Gesellschafts- und Konzertleben stets eine helle Aufregung. So
berichtete die Zeitung „Morning Chronicle“(gegründet 1769) nachdem die neue Symphonie
nun einmal vorgestellt war: “Nichts könnte origineller sein als das Thema des
ersten Satzes; und hat er einmal ein treffliches Thema gefunden, kann niemand besser
als Haydn unaufhörliche Mannigfaltigkeit daraus schöpfen, ohne auch nur einmal
davon abzulassen. Die Gestaltung der Begleitung im Andante, obgleich höchst
schlicht, war meisterhaft, und wir hörten nie zuvor einen reizvolleren Effekt als den, des
Trios im Menuett. Es war Haydn, was könnte man, was bräuchte man mehr zu sagen?“
Was in London anno 1794 noch als „höchst schlicht“ bezeichnet wurde, brachte den
Wiener Verleger Johann Traeg auf die Idee, 1798 eine Klavierfassung des zweiten Satzes
„Andante“ als „Rondo. Die Uhr“ auf den Markt zu bringen. Seit diesem Zeitpunkt tickt sie in
den Köpfen der Zuhörer, unabhängig in welcher Zeitzone sich der Lauschende
gerade befindet. Haydns Musik versteht man eben „durch die ganze Welt“, und ersparte
ihm das Erlernen fremder Sprachen, was wiederum Mozart etwas warnend bemängelte.
Die „Selbstverständlichkeit des Gelehrten“ in Haydns Musik äußert sich in einem mysteriösen
Anfang (Adagio), welches der Hauptrichtung des Themas folgend in einen 6/8-Takt
mündet (Presto). Die Durchführung ist von kontrapunktischer Feinfühligkeit, die den
Wissenden begeistert und den hörenden Neuling wohl ob seiner Verve begeistert. Die
„tickende Uhr“ verpackt Haydn im zweiten Satz (Andante) in die Streicherpizzicati und
die ostinativen Begleitstimmen der Fagotte. Ansonsten folgt der musikalische Verlauf
einer großzügig angelegten Liedform.
Das Menuett, bei Haydn immer eine aufregend humorige bis satirische Angelegenheit,
ist den 1793 entstandenen Flötenuhr-Stücken entlehnt. Der „Papa Haydn“ machte sich
seinen Spaß und schildert am Anfang wie Musikanten, aus welchen Gründen auch
immer ..., einen Harmoniewechsel verschlafen. Auch Ludwig van Beethoven dürfte sich
in der Dorfmusikantenszene im Scherzo der „Pastorale“ (Symphonie Nr. 6, F-Dur,
1807/1808) darauf beziehen.
Das Finale (Presto) rast in der Form eines Sonaten-Rondos durch Fugati, und durch
heiteres, scheinbar unbekümmertes D-Dur. Spätestens nach diesem Satz versteht man
die Begeisterung des Musikkritikers im „Morning Chronicle“. Besser geht’s eigentlich
nicht und man denkt gerne an den Satz, Beethoven hätte ohne die 107 Symphonien
seines Vorgängers und kurzzeitigen Lehrers die eigenen „Neune“ nie so und schon gar
nicht anders komponieren können. Vorsicht ist lediglich für die Interpreten geboten, die
Haydn im Gegensatz zu Mozart gern unterschätzen. Das ist ein fataler Irrtum. Hier
lässt sich vortrefflich Otto Brusatti zitieren, der sich in seinem jüngsten Werk über Haydn-
Klischees Gedanken macht und die Fragen aufwirft: „Tja. So jemand fabriziert mehrere hundert an
Spitzenwerken der europäischen Kunstmusik? So jemand ist als Dialektiker nur mehr
neben seine Zeitgenossen Kant und Hegel zu stellen? So jemand muss als Kodifikator und
Verkünder des Sonaten-Prinzips als Versöhnung von Form und Inhalt mit Musik in einer
Reihe ebenbürtig zu der Formulierung des heliozentrischen Systems oder Relativitätstheorie
positioniert werden?“ Eines ist gewiss, kaum jemand hat politische Umwälzungen so
unbeschadet überstanden - Napoleon verneigte sich vor dem Bewunderten -, und
mit dem Streichquartett und der Sonatenhauptsatzform, „nachhaltige“ Musikstrukturen
in die Welt gesetzt. Danke „Papa Haydn“.
Und Peter Iljitsch Tschaikowsky? Er scheiterte an seiner sexuellen Neigung und den damit
verbundenen gesellschaftlichen Konventionen. Am 25. Oktober 1893 wurde in St.
Petersburg der Tod des Komponisten durch Gift entdeckt. Die Symphonie Nr. 6 h-Moll op.
74 „Pathétique“, nur wenige Tage zuvor unter seiner eigenen Leitung uraufgeführt, darf als
Abgesang gehört werden. So schreibt Tschaikowsky in seinem Tagebuch: „Aber in
meiner Seele war Verzweiflung und der Wunsch, bis ans Ende der Welt vor ihnen(den Menschen) zu fliehen.“ Der Untertitel
„Pathétique“ geht auf eine Idee seines Bruders Modest zurück und bietet zwar kein
fixes Programm, verweist aber auf die hörbaren Leitmotive voll an Melancholie,
Depression und Seelenschmerzen, welche sich unverrückbar im leisen Ausklingen des
vierten und letzten Satzes (Adagio lamentoso) zeigen.
In einem Brief an seinen Neffen Wladimir Dawidow schreibt Tschaikowsky von einem
„durch und durch subjektivem Werk“ und „dass ihr Programm für alle ein Rätsel bleiben
soll“. Und er kündigt viel versprechend an: „Der Form nach wird diese Sinfonie viel
Neues bieten, unter anderem wird das Finale
kein lärmendes Allegro, sondern – im
Gegenteil – ein sehr lang gedehntes Adagio
sein.“
Der britische Musiker Sir Roger Norrington, der in seiner Interpretation hochromantischer
Musik, nicht zuletzt in der „Pathétique, als Symphonie des Leidens“ sämtlichen Anflug
an Bombast und Sentimentalität vermeidet und den „reinen Ton“ sucht, kommt zu
folgendem Schluss: „Sein ganzes Leben lang hatte Tschaikowsky eine krankhafte Angst vor
dem Tod. In diesem Werk bietet er dem Tod die Stirn und besiegt seine Furcht, indem er
ihm mit Ergebenheit entgegensieht. Bei Mahler, der Tschaikowsky kennen gelernt
hatte und seine Stücke gerne dirigierte, findet sich ein Widerhall dieses langsamen Endes in
seiner eigenen letzten Symphonie. Das Publikum, das bei der ersten Aufführung der
‚Pathétique’ noch irritiert war, weil es einen optimistischen Schluss erwartet hatte,
erkannte schon bald, dass dies Tschaikowskys größte Symphonie war – und sogar eine
der bedeutendsten des ganzen 19. Jahrhunderts.“
Der erste Satz (Adagio – Allegro non troppo) beginnt mit einer düsteren Adagio-Einleitung.
Über einen Orgelpunkt der geteilten Kontrabässe exponiert das Solo-Fagott in tiefer
Lage ein Motiv, das in Folge zum Hauptthema des Sonaten-Allegros mutiert, welches
von den geteilten Bratschen im tanzenden „saltando“ vorgestellt und entwickelt wird.
Den Höhepunkt übernehmen die Fanfaren der Blechbläser. Nach kurzer Überleitung
erklingt das berühmte Seitenthema in besänftigendem D-Dur. Der Seitensatz ist in
eine dreiteilige Form gegossen. Die Exposition verklingt im sechsfachen piano (!!) des
Fagotts. Mit einem jähen Tutti-Schlag setzt die Durchführung ein. Sie bringt zunächst ein
erregtes Fugato über das Hauptthema, anschließend ein Zitat aus der russischorthodoxen
Totenliturgie. Die Textstelle zu dieser Musik lautet: „O Christus, schenke der
Seele deines Dieners Frieden.“ Ein Todeskampf, den Tschaikowsky mit seinem letalen
Ausgang zu akzeptieren scheint, denn sanft absteigende Skalen der Streicher bilden die
Beleitung für eine ruhige Elegie in den Holz und Blechbläsern.
Dieser einleitenden Dramatik stellt Tschaikowsky mit dem zweiten Satz (Allegro con grazia) einen Walzer im für Russland so
typischen 5/4-Takt und ein marschartiges Scherzo (Allegro molto vivace) entgegen.
Gerade letzteres erscheint in seiner triumphalen Anmutung wie ein Spiegel der populären
öffentlichen Persönlichkeit des Komponisten.
Der vierte und letzte Satz (Adagio lamentoso) beginnt mit einem enormen Aufschrei ehe
absteigende Skalen das Wesen russischer Trauermusik andeuten. Beruhigung und
Auflehnung schaukeln sich gegenseitig auf, ehe ein einziger Schlag des Tam-Tams den
Augenblick des Todes symbolisiert. Erstaunlich, dass vor Tschaikowsky eigentlich
nur Joseph Haydn es „wagte“ mit einem langsamen Satz in der so genannten
„Abschieds-Symphonie (Nr. 45, fis-Moll) zu enden. Nach Tschaikowsky wählte erst
wieder Gustav Mahler in seiner Neunten ein Adagio „Sehr langsam und doch zurückhaltend“.
© Ursula Magnes