Chronik
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Werkeinführung Sommerkonzerte 2010
Endstation: Brahms - Beethoven: bitte einsteigen

Parallel zur gesungenen Romanze entstanden im 18. Jahrhundert in Frankreich gleich lautende Instrumentalstücke. Diese konnten entweder als langsamer Mittelsatz eines Konzertes oder als eigenständige Komposition gespielt werden. Der deutsche Musiktheoretiker und -lexikograf Heinrich Christoph Koch bemerkte dazu 1787 in seinem "Versuch einer Anleitung zur Composition": "In den neueren Concerten pflegt man aber auch oft statt des gewöhnlichen Adagio eine so genannte Romanze zu setzen", und fügte hinzu, dass "sie anjetzt noch blos in langsamer Bewegung gesetzt wird."

Über Ludwig van Beethovens beide Violinromanzen in F-Dur (op. 50) und G-Dur (op. 40) ist wenig bekannt. Entgegen der Nummerierung entstand die Violinromanze in G-Dur früher. Sie wurde bereits 1798 komponiert, aber erst 1805, zwei Jahre nach ihrem Schwesterwerk, veröffentlicht. Anne-Sophie Mutter, die die beiden Romanzen gemeinsam mit dem Violinkonzert op. 61 2002 in New York einspielte, bemerkte in einem Interview mit Joachim Kaiser: "Bei Mozart zählt auch jede Note. Man kann nichts wegnehmen, nichts hinzufügen. Das würde alles ruinieren, und ich glaube nicht, dass man das von irgendeinem anderen Komponisten außer Beethoven und Mozart sagen kann. (...) Menschliche Reife und Demut ist gegenüber Beethovens tragischem Charakter unabdingbar."

Beethovens Gattungsbeitrag sind nach ihm vor allem Carl Nielsen, Max Bruch und Antonín Dvorák gefolgt. Darin spiegeln sich nicht unbedingt Hauptschauplätze der Musikgeschichte, aber immerhin ein wesentliches Stück Musikwerk, um die Vielfalt der Ausdrucksweisen, nicht nur Beethovens, zu begreifen. Und es ist eine echte Herausforderung für jeden Interpreten, der sich hinter keinen Wulst an schwarzen Noten verstecken kann. Es zählen allein Geschmack und Stilsicherheit sowie die Frage, ob man in der Lage ist, mit Beethovens Entwurf auch 200 Jahre danach etwas Wesentliches erzählen zu können.
Nur scheinbar einfach!

Das Violinkonzert in D-Dur op. 77 von Johannes Brahms folgt in vielen Ansätzen jenem von Beethoven. Die Musik im Allgemeinen und nicht der Virtuose im Besonderen sollte im Mittelpunkt stehen, was ähnlich wie bei Beethoven auch Brahms heftiger Kritik aussetzte. Der Dirigent Hans von Bülow bezeichnete das Konzert als eines "gegen und nicht für die Violine", Henryk Wieniawski hielt es für schlichtweg unspielbar und Pablo de Sarasate weigerte sich überhaupt, das Hauptthema zu Beginn des zweiten Satzes der Oboe zu überlassen.

Gewidmet ist das Konzert Brahms' Freund und Star-Geiger Joseph Joachim. In einem Brief vom 21. Jänner 1878 schreibt er an ihn - um geigerische Ratschläge bittend: "Ich wünsche es mit einem weniger guten Geiger als Du es bist, durchzugehen, da ich fürchte, Du bist nicht dreist und streng genug. Nur durch viel Vorschläge und Änderungen könntest Du imponieren." Etwas später schreibt Brahms an Elisabeth von Herzogenberg: "Auch spielt Joachim mein Stück in jeder Probe schöner, und die Kadenz ist bis zum hiesigen Konzert so schön geworden, dass das Publikum in meine Kadenz hineinklatschte."

Herzstück des ersten Satzes "Allegro non troppo" ist das zweite Thema. Die Geige ist gleichermaßen als Solo- als auch als Orchesterinstrument definiert. Dramatische Einwürfe packt Brahms in einen großen formalen Bogen. Rhapsodisch bisweilen schwelgerisch "kämpft" sich der Solopart bis zur Kadenz, welche der Komponist von Beginn an Joseph Joachim überließ. Nach dem als Ruhepol fungierenden zweiten Satz, mit der Solo-Oboe als konzertantem Gegenpart, erinnert das abschließende "Allegro giocoso" an ein "à la ungarese" - ähnlich dem Klavierquartett g-Moll op. 25 mit seinem "Rondo à la Zingarese".

Unter dem Motto "Idiom der Sehnsucht" schreibt Volker Tarnow in einer Konzerteinführung für die Berliner Philharmoniker (Programmheft Nr. 40, 2009/2010): "Als erklärter Konservativer war natürlich auch Johannes Brahms ein Experte für Vergangenes. An ein künftiges Glück vermochte er nie zu glauben, sein Glück war immer schon ein verlorenes, wenn überhaupt je genossenes. Die mit wehmütigen Erinnerungen angefüllte Musik von Brahms verweist nicht unbedingt auf ihren Autor, sie greift viel weiter zurück in eine Zeit ohne Enttäuschungen und Verluste. Friedrich Nietzsche, der Brahms nicht mochte, billigte ihm immerhin, als sein Eigenstes die Sehnsucht zu. Diese Sehnsucht fand ihr Ziel im Volkslied, nicht nur im deutschen, sondern auch im italienischen, türkischen und japanischen Volkslied. Genauso wie Bartók sammelte und bearbeitete Brahms Volkslieder aller Herren Länder. Nostalgie ist niemals national." Ein "Geigenliedchen" findet sich beispielsweise im Trio des dritten Satzes Scherzo "Allegro giocoso" der Symphonie Nr. 4.

Brahms der Konservative? "Ja, aber!", möchte man antworten und gleich aus Arnold Schönbergs "Nationale Musik" (1931) zitieren, der von Brahms einiges lernte: "1. Vieles von dem, was mir durch Mozart unbewusst zugeflogen war, insbesondere Ungradtaktigkeit, Erweiterung und Verkürzung der Phrasen. 2. Plastik der Gestaltung: nicht sparen, nicht knausern, wenn die Deutlichkeit größeren Raum verlangt; jede Gestalt zu Ende führen. 3. Systematik des Satzbildes. 4. Ökonomie und dennoch: Reichtum.

Während Brahms zwei Sommer hintereinander 1884/85 im steirischen Mürzzuschlag verbrachte, arbeitete er an seiner vierten und letzten Symphonie. Zu dieser Zeit setzte er sich intensiv mit der neuen Sophokles-Übersetzung auseinander, was ihn später animiert, die Symphonie als "vier Zwischenspiele zur Tragö die des menschlichen Lebens, wie es sich seit Menschengedenken abspielt" zu bezeichnen. Nach der Wiener Uraufführung 1886 meinte der Brahmsianer Eduard Hanslick über die Symphonie als einen Fall dauerhafter Studien: "Es ist wie ein dunkler Brunnen; je länger man hineinschaut, desto mehr und hellere Sterne glänzen uns entgegen." Das ahnte Brahms! Seine eigenen Zweifel beschrieb er auch Hans von Bülow: "Ein paar Entre'actes liegen da - was man so zusammen gewöhnlich eine Symphonie nennt ... ob sie weiteres Publikum kriegen wird? Ich fürchte nämlich sie schmeckt nach dem hiesigen Klima - die Kirschen hier werden nicht süß, die würdest Du nicht essen!"

Aus einer zweitönigen Keimzelle baut Brahms nicht nur den gesamten ersten Satz, in den Takten 14-18 erschließt sich auch das Passacaglia-Thema für den letzten Satz, welches Brahms dem Schlusschor der Bach-Kantate "Nach dir, Herr, verlanget mich" BWV 150 verdankt. Nach all der molekularen motivischen Arbeit, die aus dem kleinsten Glied den großen Zusammenhang schöpft, scheint der Beginn des zweiten Satzes mit dem archaisch balladenhaft wirkenden Unisono der Hörner wie der Wechsel in eine andere Landschaft. Die Sehnsucht erschließt sich dem Zuhörnenden durch ein unentwegtes Vorwärtsdrängen. Freilich, losgelassen ist diese Sehnsucht nie, lediglich in einzelnen Verästelungen - Brahms, der Wächter. Zweckoptimismus im dritten Satz - bemühte Scherzo-Fröhlichkeit in Sonatenform. Und dann? Ein Thema und 30 Variationen! Ohne jegliche Jubelstimmung endet Brahms ganze symphonische Kraft im stürmi-schen Moll. Alles ist gesagt. "Es führt kein Weg mehr zurück, und es führte auch keiner mehr weiter. Es ist von einer sich aufdrängenden Folgerichtigkeit, dass keine weiteren Symphonien mehr entstehen. So viel Rückschau wird hier manifestiert. In dieser Vierten Symphonie zeigt sich noch einmal in der großen Form Brahms' ureigenes Musikverständnis: Gebundenheit und Erneuerung durch Assimilation, verbunden mit dem unablässigen Vorantreiben der thematischen Prozesse'. Jeder ein wenig hörgewohnte Mensch wird heute die abschließende Coda mit ihren Variationen als Wunder der Musik betrachten." (Hans A. Neunzig) Johannes Brahms schließt sein symphonisches Vermächtnis, in dem er die Gefühlswelt des 19. Jahrhunderts mit der Formenstrenge und Durchsichtigkeit vergangener Epochen verbindet. Sein Blick reicht hierbei über Johann Sebastian Bach weit in die Renaissance hinein. Er überwindet jegliches modisches Machwerk und ist dadurch zeitlos modern.

© Ursula Magnes