Herbstkonzert 2012 - Werkeinführung von Ursula Magnes
Szenen einer Passionsoper
Die bekannteste Vertonung des „Stabat Mater“ ist vermutlich nach wie vor jene von Giovanni Battista Pergolesi
(1710-1736) aus dem Jahr 1736. Weit weniger empfindsamgeht sein Landsmann Gioachino Rossini (1792-1868) gut
hundert Jahre später ans Werk, wenn er im Zuge einesSpanienaufenthaltes den Auftrag annimmt, einen Jacopo
da Todi zugeschriebenen Hymnen-Text aus dem 13. Jahrhundert zu vertonen. Dieser Hymnus oder auch Sequenz
beschreibt die Schmerzen der Gottesmutter Maria unter dem Kreuz ihres Sohnes, Jesus Christus.
Den lateinischen Originaltext „Stabat mater dolorosa /
luxta crucem lacrimosa“ überträgt Christoph Martin Wieland 1779 beispielsweise in gereimter Form mit „Schaut
die Mutter voller Schmerzen, wie sie mit zerissnem Herzen unterm Kreuz des Sohnes steht.
In insgesamt zehn Strophen wird der Betende eingeladen und ermutigt sich in
das Leiden der Mutter zu versetzen und damit dem Martyrium Jesu Christi sowie seiner eigenen Erlösung näher zu
kommen.
Im Nachwort seiner „Petite Messe solennelle“ schrieb der 71-jährige
Gioachino Rossini, gezeichnet mit „Passy 1863“:
„Lieber Gott, hier ist sie fertig, diese arme kleine Messe. Habe ich
geistliche Musik geschrieben oder
Musik des Teufels? Ich wurde für
die opera buffae geboren, das weißt du wohl. Ein wenig
mit Kopf, ein wenig mit Herz, alles ist das. So sei denn gesegnet und lass mich
ein in das Paradies.“ Geistliche Werke komponierte Rossini in seiner Jugend zu Studienzwecken und nach seiner
früh beendeten Opernkarriere. Er wusste sich damit sehr gut einzuschätzen, indem er 1865 Wiens gefürchtetem
Musikkritiker Eduard Hanslick antwortete: „Das ist keine Kirchenmusik für euch Deutsche, meine heiligste Musik ist
doch immer semi-seria.“ Es war in Italien durchaus üblich
bekannte Opernmelodien in den Dienst kirchenmusikalischer Praxis zu stellen. Rossini hat ähnlich wie Wolfgang
Amadeus Mozart stets einen Fuß in der Oper, gewissermaßen im Belcanto. Georg Wilhelm Friedrich Hegel bemerkt
dazu in seinen Vorlesungen über Ästhetik (1835-1838):
„Die Gegner verschreien namentlich Rossinis Musik als einen leeren Ohrenkitzel; lebt man sich aber näher in ihre
Melodien hinein, so ist diese Musik im Gegenteil höchst gefühlvoll, geistreich und eindringend für Gemüt und Herz, wenn sie sich auch nicht auf die Art und Charakteristik einlässt, wie sie besonders dem strengen deutschen musikalischen Verstande beliebt.“
Als Honorar für sein „Stabat Mater“ erhielt Rossini eine goldene, mit Diamanten besetzte, Schnupftabakdose. Nach
der Komposition seiner letzten Grand opéra „Guillaume Tell“ beendet er 1829 aus freien Stücken seine Karriere als
erfolgreicher Opernkomponist und widmet sich vornehmlich der Kochkunst und anderer, musikalischer „Alterssünden“. Von seinen 39 Bühnenwerken sind entgegen der allgemeinen Einschätzung seines Œuvres und aufgrund
seines wohl größten Erfolges mit der opera buffa „Il barbiere di Siviglia“ (Rom, 1816), nur 16 dem komischen Fach
verpflichtet. Mit seinen ernsten Opern setze er vor allem in der Instrumentierung und der Gewichtung der Ensembleszenen deutliche Akzente für die ihm nachfolgende große romantische Oper. Heinrich Heine attestierte dem „divino
Maestro“ eine Tiefe, die seine Landsleute nicht sehen, weil er sie mit Rosen bedeckt, nicht gedankenschwer und doch
gründlich genug, leicht flatternd und gottbeflügelt. Alejandro Aguado, ein reicher spanischer Industrieller und
Bankier, lud Rossini nach Beendigung seiner Opernkarriere zu einer Reise nach Spanien ein. Erst nach Bitten und
Drängen des Madrider Erzbischofs Manuel Fernández Varela willigte Rossini ein, sich an die Vertonung eines „Stabat Mater“ zu machen. Aufgrund von Zeitnot und anderer Unpässlichkeiten bat er seinen Freund Giovanni Tadolini bei der Vollendung des Werkes behilflich zu sein. Erst als das Manuskript nach dem Tod des Erzbischofs entgegen
der ursprünglichen Vereinbarung verkauft wurde, vertonte Rossini auch jene Teile, die er Tadolini zugewiesen hatte
(„Cujus animam“, „Quis est homo“, „Pro peccatis“). Die Uraufführung der Neufassung wurde am 7. Jänner 1842
in Paris zu einem großen Erfolg. Rossini komponierte ein Werk, das auch als Vorbild für Giuseppe Verdis hochdramatische „Messa da Requiem“ (1874) gesehen werden
kann.
Gleich zu Beginn entwirft Rossini eine große Opernszene,
die auch als auftrumpfendes Finale um das Jüngste Gericht durchgehen könnte, wüsste man nicht um den Inhalt
des Gebotenen. Die ersten Takte steigen langsam und im 6/8-Takt pianissimo aus der Tiefe. Der Chor scheint als
Volk entsetzt das Leiden der Mutter Christi zu beobachten, ehe die Soli (Sopran, Tenor) das musikalische Geschehen
übernehmen, worauf der Chor wieder kommentierend eingreift. Die tiefen Streicher erinnern an Stellen in Richard
Wagners „Tristan und Isolde“ (1865).
Die zweite Strophe thematisiert das schmerzerfüllte Herz“ der Mutter, das jenem des Sohnes gleich, von
einem Schwert durchbohrt wurde. Das verlangt nach einer Heldenarie des Tenors, Koloraturen, die bis zum
hohen „des“ reichen und auf den Worten göttlicher Sohn“
ihren Höhepunkt erreichen.
Der Hornsatz, Rossini verlangt in der Besetzung vier Hörner, zwei Trompeten und drei Posaunen, eröffnet die dritte
Strophe, die das „Weinen mit der Mutter Christi“ in den Mittelpunkt stellt. Auf die langsame Einleitung der Hörner
folgt die Oboe, welche „die Qualen des Sohnes“ umspielt.
Die Solopartien des Sopran und des Alt erreichen jene für Rossini so typisch homogene Verschmelzung, die das Herz
berühren kann. Die Umstiege zwischen langsamen und bewegten Tempi bleiben dessen ungeachtet beiläufig und
entspringen einer fließenden Theaterszenerie.
Strophe vier versetzt den Zuhörer wieder in die Perspektive der Mutter, die zusehen muss wie ihr Sohn gemartert
und gegeißelt wird – einsam am Kreuze stirbt. Rossini entwickelt dafür eine große „väterliche“ Bass-Arie.
Der Männerchor besingt inständig den „Quell der Liebe“, die das Herz mit Zuneigung zu Christi entflammen soll.
Flehend kommt das Bass-Solo hinzu, ehe der gemischte Chor weiterführt. Die Echostellen bei „in amando Christum Deum“ („mit der Liebe zu Christus, unserem Herrn“) erscheinen fast ein wenig kurios, sollen aber eindringlich die einfache Volksseele im Sinne eines Votivbildchens ansprechen. Der Duktus der Melodie erinnert sehr an das neapolitanische Volkslied „Funiculì, Funiculà“, das allerdings erst 1880 zur Errichtung der Standseilbahn auf den
Vesuv verfasst wurde.
Das Solisten-Quartett besingt in lockerer Gangart die
„Jungfrau aller Jungfrauen“. Auf den Tenor folgen Sopran, Bass und Alt, als wolle man sich übertreffen, wer die
Gottesmutter Maria noch schöner besingen könne. Rossini schafft es mit wenigen Mitteln das Geschehen zu verdich-
ten und doch stets durchlässig zu halten.
„Lass mich Christi Tod ertragen“, „Lass seine Wunden mich schmerzen“ lautet der Inhalt für die Alt-Cavatina,
welche nach einer kurzen Einstimmung mit Hörnern, Klarinetten und Fagotten ihren Lauf nimmt.
Der Tag des Gerichtes ist ein vokaler „Zweikampf“ zwischen Sopran und Chor mit dramatischem Schluss. Darauf folgt der Blick ins Paradies gänzlich a cappella. Rossini verbeugt sich vor der Kirchenmusiktradition italienischer
Renaissance-Meister à la Palestrina und lässt die Instrumente schweigen. Eine verinnerlichte Szene für die vier Solostimmen.
Auffahrend gestaltet Rossini die Worte „paradisi gloria“ –
jede Seele, auch „die meine“ ist sterblich. Mit der großen
Schlussfuge schafft er die thematische Klammer zum
Beginn des Werkes.
Der deutsche Musikwissenschaftler Winfried Kirsch findet
in seiner eindringlichen Exegese des Werkes zu dem
Schluss, dass die Distanz zwischen göttlicher Tat und
menschlichem Verständnis überwunden scheint. In dem
Rossini mit seinen „weltlichen“ Stilmitteln den Kirchenraum verlässt, ohne ihn preiszugeben.