Chronik
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Herbstkonzerte 2004

Felix Mendelssohn-Bartholdy
"PAULUS"

Oratorium nach Worten der heiligen Schrift, op. 36

Werkeinführung

Paulus - Oratorium nach Worten der Heiligen Schrift
Zeitlos aus der Tradition

1829 ist das Jahr eines musikhistorisch bedeutenden Ereignisses, Felix Mendelssohn-Bartholdy führt mit der Berliner Singakademie Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion auf. Freilich im romantischen Sinn, mit Klarinetten und allerlei Zutaten abseits barocker Klangrede, aber immerhin – Bachs Musik wurde wieder entdeckt und in Folge berühmter als sie zu seinen Lebzeiten im Schatten modernerer Kollegen je war.

„Dass alles Alte, Gute neu bleibt, wenn auch das Hinzukommende anders werden muss als das Alte, weil es von neuen und anderen Menschen ausgeht.“ Mit diesen Worten unterstreicht Mendelssohn seine Überzeugung aus Tradition und Rückbesinnung Neues zu schöpfen, um an Kontrapunkt und Fugentechnik anzuknüpfen und damit im weitesten Sinne Johannes Brahms vorwegzu-nehmen. Der Vorwurf zu sehr an alte Meister, insbesondere an Bach und seinen universellen Umgang mit Chorälen zu erinnern, kümmerte Mendelssohn in Bezug auf das Oratorium Paulus herzlich wenig: „Hat es Ähnlichkeit mit Sebastian Bach, so kann ich wieder nichts dafür, denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Muthe war, und wenn mir einmal bei den Worten so zu Muthe ist, wie dem alten Bach, so soll es mir um so lieber sein. Denn du wirst nicht meinen, dass ich seine Formen copiere, ohne Inhalt: da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben.“ So ist es bestimmt kein Zufall, wenn man beim Hören des Paulus an den Leipziger Thomaskantor denkt, ohne gleichzeitig auf den Karfreitagszauber aus Wagners Parsifal vergessen zu müssen. Robert Schumann bringt es als literarisch beflissener Kritiker 1837 mehr oder weniger auf den Punkt: „Außer dem inneren Kern die tiefreligiöse Gesinnung [preist], die sich überall ausspricht, betrachte man all das Musikalisch-Meisterlich-Getroffene, diesen edlen Gesang durchgängig, diese Vermählung des Wortes mit dem Ton ..., die Armut, die über das Ganze wie hingehaucht ist, diese Frische, dieses unauslöschliche Kolorit in der Instrumentation, des vollkommen ausgebildeten Stiles, des meisterlichen Spielens mit allen Formen – der Setzkunst nicht zu gedenken.“

Die Handlung des Paulus vollzieht sich in zwei großen Abschnitten. Stephanus verkündigt die Lehren Jesu, wird von falschen Zeugen verleumdet und wegen seiner offensichtlichen „Gotteslästerung“ von einer aufgebrachten Menge gesteinigt. Da tritt Saulus von Trasus in Erscheinung - mutiert vom Christenverfolger zum Märtyrer. Auf dem Weg nach Damaskus begegnet ihm die Stimme Jesu. Mendelssohn vertont diese zentrale Passage des Oratoriums auf schier berückende Weise. Ein sphärischer Frauenchor verkündet die Worte Jesu, auf die Saulus mit „Herr, was willst du, dass ich tun soll?“ fragend antwortet. Nach drei Tagen prüfender Blindheit, wird Saulus auf Geheiß Gottes wieder se-hend und lässt sich taufen. Als vom Saulus zum Paulus Bekehrter, zieht er fortan durch die Lande, um den christlichen Glauben und die Liebe Gottes zu predigen. Unausweichlich kommt es zur Verfolgung durch ehemalige Glaubensgenossen. Paulus verabschiedet sich von der Gemeinde Ephesus und stirbt den Märtyrertod. Die Worte „er hat den Lauf vollendet, er hat Glauben gehalten“ münden abschließend im feierlichen Lob Gottes.

Bei der Auswahl der Texte vertraute Mendelssohn zum Großteil auf die Unterstützung des Theologen Julius Schubring, den er bereits 1825 in Berlin kennen lernte, und der ihn auch bei seinem zweiten Oratorium Elias beriet. Uraufgeführt wurde Paulus 1836 im Rahmen des 18. Niederrheinischen Musikfestes in Düsseldorf. Nach kritischen Stimmen, die das Oratorium als einen „Heidenapostel im Schlafrock“ bezeichneten, entschloss sich Mendelssohn, das Werk nach der Uraufführung noch einmal umzuarbeiten. Die zweite Fassung brachte dem Komponisten schließlich europäische wie internationale Anerkennung.

Im Gegensatz zu Bachs liturgisch begründeten Passionen und den opernhaften Oratorien Händels, ist Paulus durchaus als meditative Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben, bzw. dem Glauben einer Gemeinde zu verstehen. Die bewusste Verwendung des Chorals als integrative Betrachtung des Geschehens schafft eine zusätzliche Beziehungsebene zwischen Werk, Musiker und Publikum. So führen die Solisten anstelle eines Evangelisten abwechselnd durch die Handlung. Die einzelnen Situationen sind so unterschiedlich wie ihre musikalische Umsetzung. Die Rezitative erzählen, erklären, dramatisieren und mischen sich mit verschieden besetzten Solopassagen. Daraus entsteht eine kreative Paarung aus bürgerlichem Selbstbewusstsein und ausgeprägtem Gemeinschaftsdenken, was sich auch in der oftmaligen Koppelung von Soli und Chor wieder findet. Die Rolle des Paulus entwickelt sich aus dem Duktus der barocken Rache-Arie hin zu einer für Mendelssohn geradezu charakteristischen Tonsprache, geprägt durch Klangschönheit mit je nach Situation erforderlicher Beleuchtungsintensität. Robert Schumann sprach von einem „Juwel der Gegenwart“, nachdem er das Werk in Wien hörte.

© Ursula Magnes