Chronik
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Sommerkonzerte 2004

Dvorák - Mussorgskij




Werkeinführung

Dvorak: Cellokonzert

Am 1. Mai 2004 feierte die Welt nicht nur den 100. Todestag Antonin Dvoráks, sondern gleichzeitig den Eintritt Tschechiens in die Europäische Union. Liest man die Beurteilung von Leos Janácek über die Musik seines Kollegen Dvorák, so wäre ein Motiv beide Feste in ihrer Bedeutung zu erkennen gefunden: „Dvoráks Partituren können dem Musiker ans Herz wachsen. Und was das Wichtigste ist: Dvorák führt eine solche Figur in einer Stimme nicht bis zum überdruss durch; kaum hast du sie kennen gelernt, schon winkt dir freundlich die zweite. Du bist in einer ständigen angenehmen Erregung..." Unterhaltende Vielfalt die dem Geist wie dem Herzen Rechnung trägt. Kritiker zur Zeit der Jahrhundertwende sprachen in Bezug auf Dvoráks Cellokonzert gern von seiner "zehnter Sinfonie".

Im April 1895 kehrt der Komponist nach dreijährigem Amerika-Aufenthalt in seine böhmische Heimat zurück. Im Reisegepäck bringt er auch sein Cellokonzert mit, welches ein Jahr später unter seiner Leitung in London uraufgeführt wurde. Kurz nach seiner Vollendung erfährt es durch Dvorák eine Umarbeitung, wobei er dem Ende des Finalsatzes ganz gegen die Konvention anstelle einer Solokadenz, einen stillen, melancholischen Epilog anfügte, der von der Musikwissenschaft wiederholt mit dem Tod seiner Schwägerin in Verbindung gebracht wird.

Das Besondere des Konzertes ist zweifellos die Art und Weise wie spielerisch leicht Dvorák den symphonischen und virtuosen Anspruch miteinander verbindet. Nach klassischem Modell wird in der langen Orchesterexposition des Allegro-Kopfsatzes das thematische Grundmaterial vorgestellt. Ein expansiv-leidenschaftliches Hauptthema, zuerst eher verhalten, dann im mächtigen Tutti vorgetragen, weicht dem Seitenthema in D-Dur, das in seiner epischen Breite dem Horn anvertraut wird. Nach der Vorstellung des Solos folgt eine Durchführung sinfonischen Ausmaßes, die sich mit den motivischen Elementen des Hauptthemas, vor allem des Kopfmotivs beschäftigt. In der Reprise vertauscht Dvorák die Reihenfolge der Themen. Nach ausführlicher Beschäftigung mit dem Seitenthema sind am Satzende bzw. in der Coda durch die betonte Dominanz des Hauptthemas, die gewohnten Verhältnisse eines inhaltlichen Ablaufes wieder hergestellt.

Das expressive Adagio, einer der tiefsinnigsten Sätze Dvoráks überhaupt, steht unter direktem Einfluss seiner tödlichen Erkrankung. Die Holzbläser eröffnen in G-Dur eine elegische Liedweise, die vom Cello weiterführend aufgenommen wird. Erregung und Leidenschaft bestimmen im Anschluss den g-moll Mittelteil, der mit einem kräftigen Ausbruch im Tutti beginnt, und das Cello über einer unruhig bewegten Begleitung zumindest singen lässt. Dvorák zitiert hier bezeichnenderweise das Lied "Lasst mich allein" op.82, das im Epilog des Finalsatzes noch einmal anklingen wird. Die Reprise des Satzes ist eine fantasievolle Variation des Beginns und rückt besonders die Bläser in den Vordergrund. Es entsteht eine Stimmung entspannter „Weltvergessenheit“.

Noch etwas gedankenverloren eröffnet der Finalsatz mit ostinaten Basstönen im pianissimo und dem verhaltenen Kopfmotiv des Hauptthemas im Terzett der Hörner. Nach einer mächtiger Steigerung setzt jedoch der Solist vehement mit dem vollständigen Thema ein, das vom Orchester ebenso energisch beantwortet wird. Tänzerische und bisweilen marschartige Elemente prägen diesen Teil bis hin zum Seitensatz. In der Fortsetzung kommt es zu einem klangschönen und fast intimen Wechselspiel zwischen einzelnen Solobläsern, einer Solovioline und dem Cello. Bemerkenswert ist hier das bewusste Aufbrechen des Sonatensatz-Modelles. Gewaltsame Schlusstakte setzen den wehmütigen Klängen des Epilogs ein Ende.

Europäische Hörbilder

In einem Brief an seinen Freund, den Kunstkritiker Wladimir Stassow, schreibt Modest Mussorgskij 1872: „Solange sich der Kunstmusiker nicht von seinen Windeln, seinen Hosenträgern und Sockenhaltern befreit, solange werden die Symphoniker-Priester herrschen und ihren Talmud ´der ersten und zweiten Ausgabe` als das Alpha und Omega im Leben der Kunst hochhalten. [...] Es sind nicht die Symphonien, gegen die ich mich wehre, sondern die Symphoniker – die unverbesserlichen Konservativen. Also erzählen Sie mir nicht, weshalb unsere Musiker viel öfter über Technik schwatzen als über Ziele und historische Aufgaben, das kommt nämlich gerade davon.“ Der solcherart freiheitsliebende bisweilen undogmatische Modest Petrowitsch Mussorgskij kam aus wohlhabendem Haus, und schloss sich nach dem obligatorischen Militärdienst dem „Mächtigen Häuflein“ um den Komponisten Milij Balakirew an, der ihn auch unterrichtete. Zentrale Anliegen der so genannten „Kutschka“ waren die Neuentdeckung russischer Folklore, Verachtung des Westens inklusive Richard Wagner sowie die Ablehnung der Musik Tschaikowskys und Anton Rubinsteins. Auch die Entstehung der Bilder einer Ausstellung entspringt dem Dunstkreis des „Mächtigen Häufleins“.

Als Stassow, der sich zur Zeit des Todes des Architekten und Malers Viktor Hartmann im Ausland aufhielt, wieder nach Petersburg zurückkehrte, veranstaltete er 1874 eine Ausstellung im Gedenken Hartmanns. Der Ausstellungskatalog verzeichnete etwa vierhundert Werke, darunter Buchillustrationen, Reiseskizzen, Architektur- und Kostümentwürfe. Diese Ausstellung inspirierte auch Mussorgskij, dem verstorbenen Freund ein musikalisches Denkmal zu setzen. In einem enormen Schaffensrausch komponierte er die Klaviersuite Bilder einer Ausstellung, die bereits am 22. Juni 1874 als fertige Partitur vorlag. Zu Mussorgskijs Lebzeiten wurde das Werk jedoch vollständig ignoriert, selbst Rimskij-Korsakow berichtet in seiner Chronik kein Wort darüber. Erst einige Jahre nach Mussorgskijs Tod im Jahr 1881 kommt es zur ersten Drucklegung der Suite. Im Konzertsaal wurde sie in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt und schließlich populär, nachdem Maurice Ravel im Jahre 1922 für den Dirigenten Serge Koussevitzky eine Orchestrierung anfertigte. Heute existiert eine schier unübersehbare Vielzahl an Bearbeitungen, die Genre übergreifend durchaus der Fantasie des Komponisten gerecht werden. So hat sich 1971 u. a. die Rockgruppe „Emerson, Lake & Palmer“ mit dem Werk auseinander gesetzt - die Windeln, Hosenträger und Sockenhalter der Kunstgelehrten waren wohl abgelegt.

Mussorgskij hat sich für seine Hommage an Viktor Hartmann insgesamt zehn Bilder ausgesucht, die durch eine wiederkehrende Promenade verbunden werden. Diese Promenade stellt das Selbstbildnis und Empfinden des Komponisten beim Betreten und Betrachten der Ausstellung dar. Mit dem Zugehen auf weitere Bilder und die innere Reaktion darauf, verändert sich auch die musikalische Gestalt der Promenade. Es entsteht ein faszinierendes Wechselspiel zwischen aktiver Darstellung und gleichzeitiger Rezeption des Gesehenen. In der Bearbeitung des Werkes durch Maurice Ravel ergibt sich in Abweichung vom Original folgender „Audio-Guide“ durch die Ausstellung: Promenade – Der Gnom –Promenade – Das alte Schloss – Promenade – Die Tuilerien – Bydlo – Promenade – Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen – Samuel Goldenberg und Schmuyle – Der Marktplatz von Limoges – Katakomben – Die Hütte der Baba Yaga – Das große Tor von Kiew.

Dem ersten Bild Gnomus liegt eine Zeichnung eines nussknackerartigen Weihnachtsschmucks aus Holz zugrunde. Mussorgskij gestaltete daraus das Porträt eines kleinen Zwerges, der linkisch auf deformierten Beinen durch die Welt torkelt. Vor dem mittelalterlichen Castello, zwischen Italien und Frankreich angesiedelt, hat ein Troubadour Stellung bezogen, um seiner Minne Ausdruck zu verleihen - er singt eine Romanze. Maurice Ravel hat für die Darstellung dieser Szene ein „Siciliano“ gewählt, und den Troubadour mit einem Saxofon versorgt. Die nächste Promenade bricht abrupt ab, als man Kinder entdeckt, die sich unter der Aufsicht strenger Gouvernanten in den Gärten der Tuilerien [„Ziegelbrennereien“, ehemaliges Schloss der französischen Könige in Paris] vergnügen. Bydlo, ein schwerfälliger polnischer Ochsenkarren mit großen Rädern, bewegt sich zu einer Melodie, die Ravel der Situation entsprechend der Tuba überantwortet. Die Szene wird in der Musik durch das Komponieren des Näherkommens und sich wieder Entfernens förmlich dreidimensional. Das Ballett der Küchlein in den Eierschalen folgt dem Kostümentwurf Hartmanns für Petipas Choreographie zu „Trilbi“, einem Ballett komponiert vom Petersburger Dirigenten, Geiger und Komponisten Julius Gerber. Der Entwurf zeigt Kinder, die als Kanarienvögel erscheinen. Ihre Körper sind von großen Eiern umhüllt, aus denen Köpfe, Flügel und Füße heraus ragen. Samuel Goldenberg und Schmuÿle - „zwei polnische Juden, der eine reich, der andere arm“ lautet der Titel der Schilderung jener beiden unterschiedlichen Charaktere, die zuerst isoliert und am Ende aufeinander einredend dargestellt werden. Ein Stimmungsbild eingefangen im Ghetto der polnischen Stadt Sodomir. Noch ein Mal wird es laut und hektisch, wenn auf dem Marktplatz von Limoges französische Marktweiber ihre Produkte anpreisen und mit den Käufern zanken, untermalt von der Aufregung um aktuelle Nachrichten und aktuellen Tratsch. Katakomben – Sepulcrum romanum, dieses Bild zeigt einen Laternenträger, der Hartmann selbst sowie einem Freund die Katakomben von Paris zeigt. Mussorgskij notierte dazu in die Partitur: "con mortuis in lingua mortua" (mit den Toten in der Sprache der Toten) und ergänzt auf russisch: "Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an - die Schädel beginnen im Inneren sanft zu glühen.“ Die Hütte der russischen Märchenhexe Baba Yaga inspirierte den Komponisten in Form einer kunstvolle Uhr, die den ungewöhnlichen Bau nachahmt. Die Baba Yaga selbst zerstößt Kinderknochen [!] und fliegt mit ihrem Mörser durch die Lüfte. Das große Tor von Kiew zeigt einen Entwurf für einen Wettbewerb um die Errichtung eines riesigen Tores zum Gedenken an Zar Alexander II., der einen Mordanschlag überlebte. Mussorgskij stellt darin eine Feier nach, in der ein Chor das russisch-orthodoxe Kirchenlied „In Christus getauft“ singt, während Kirchenglocken das Thema der Promenade läuten. Der Schluss erinnert stark an die russische Nationaloper „Boris Godunow“. Die gesamte Auswahl der Bilder zeigt Mussorgskijs Weitsicht und das Interesse ein möglichst vielfältiges Bild von Hartmanns Schaffen musikalisch interpretierend darzustellen. Französische, lateinische, polnische, jiddische und russische Perspektiven ergänzen die stark ausgeprägte Verwurzelung in der eigenen, russischen Kultur.

© Ursula Magnes